11. September 2012

Judith Butler. Eine Jüdin denkt nach über jüdische Fragen

Es ist schon Schnee von gestern, der Theodor W. Adorno-Preis ist vergeben, die Reden sind gehalten, das klamme Frankfurter Stadtsäckel ist um 50 000 € leichter. Freunde und Gegner der Preisträgerin haben getan, was sie konnten, für oder gegen die Preisverleihung aufzutreten, die Juden Micha Brumlik und Abraham Melzer sind angemessene Verehrer der US-amerikanischen Philosophin. Wie diese haben auch sie keine Identität, auch sie vergreifen sich an Identitäten anderer, vergnügen sich am 60. Jahrestag Israels wie die Kinder mit schwarzen Luftballons, jonglieren mit Naqba, Hamas und Hezbollah, sie und Judith Butler können nur Feinde Israels sein, dieses Staates mit der größten Identitätsdichte weltweit.

Zuzugeben, daß sie alle Juden ohne Heimatland sind, kommt für sie nicht in Frage, das könnten sie nicht aushalten, es wäre eine Anerkennung der Wirklichkeit, ein Beweis ihrer Ohnmacht. Deshalb fahren sie multiple Identitäten auf. Schon der österreichische Schriftsteller Joseph Roth ist daran zugrunde gegangen, ausgegrenzt in Deutschland und Österreich, versucht er sich als Franzose, bekleidet sich mit Identitätsfetzen durch Ausgrenzung der anderen, durch Abwertung der Amerikaner beispielsweise. Wenigstens hat er keine politischen Wirkungen beabsichtigt, sondern nur sich selbst zerstört. In einem "portablen Vaterland" wie Marcel Reich-Ranicki können sie sich nicht einrichten, denn die Identitäten "Vater" und "Vaterland" lehnen sie aus tiefstem Herzen ab.

Soweit die jüdische Seite.

Die Preisverleiher aber haben anderes im Sinn, sie bemächtigen sich einmal mehr eines Juden - frau darf Judith Butler so nennen, in der männlichen Form? Die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, 62-jähriges Jury-Mitglied für den Theodor W. Adorno-Preis, plaudert's im SPIEGEL Nr. 36 unter dem Titel "Schrecklichkeiten angerichtet" aus. Die Judenfrage steht an, versteckt hinter einem Plural: "Natürlich weiß ich, dass sie als jüdische Person über jüdische Fragen nachdenkt." Die Lösung jüdischer Fragen ist schon lange deutsch-österreichisches echtes Anliegen, mit großem Erfolg sind im Zweiten Weltkrieg Millionen Identitäten auslöschende Antworten gefunden worden. Zur Lösung der Judenfragen der Gegenwart dienen BSD, der Boykott Israels in allen Bereichen, die Delegitimierung, die Zerstörung der Identität des Staates. Dazu ist die "jüdische Person" in ihrer Finesse besser geeignet als jeder Deutsch-Österreicher; sie sagt's nämlich stellvertretend.

Auch werden alle Grenzen niedergemacht, sie zerfließen, oder warum kann Marlene Streeruwitz von der US-Amerikanerin Judith Butler behaupten, daß sie ihre "Umgebung kritisch" ansehe, wenn sie sich zu Israel äußert, das 12 000 Kilometer entfernt ist von Kalifornien? Von "Identität im Fluss" handele ihr Werk, es richte "sich gegen jede Etikettierung". Bei den Ausmaßen handelt es sich eher um eine Nicht-Identität im Meer.

"Die Deutschen haben in der NS-Zeit Schuld auf sich geladen", deshalb fragt der SPIEGEL-Interviewer: "Müsste eine Jury, die einen deutschen Preis vergibt, nicht darauf achten, wen sie damit bedenkt?" Diese Wendung ermöglicht es Marlene Streeruwitz, die Verbrechen der Deutschen, zu denen sich die Österreicher sieben Jahre begeistert zählen, zu entgrenzen wie die "Identität im Fluss" und sie zu "Schrecklichkeiten" zu verniedlichen: Buh! Österreich wird bei ihr zum Ausland: "Es gab ja mitarbeitende Länder, Österreich etwa." Wer sich hinter "etwa" verbirgt? Alle unetikettierten Identitäten im Fluss. Eine weitere Nabelschau Deutschlands steht an.

Nicht der Juden- und Israelhaß Judith Butlers ist Gegenstand, sondern wir, für die das "Thema so schmerzhaft ist, dass [wir] es nicht berühren wollen." Dazu verhilft uns Judith Butler, sie zeigt uns über allen Schmerz, den wir der angerichteten "Schrecklichkeiten" wegen empfinden, daß die Delegitimierung Israels zu unserer späten Rechtfertigung dennoch möglich sein kann, daß unsere Mühen nicht vergeblich gewesen sind. Eine identitätsfreie Jüdin nimmt die Last unserer Identität auf sich. Dafür sind 50 000 € nicht zu viel gezahlt, sondern wir erhandeln ein Schnäppchen.