24. Juni 2013

Frankreich. Zünfte, Dhimmitum und Hermaphroditen

Am Sonntag, 23. Juni 2013, geht's um 6:30 Uhr los mit der Autofahrt ins Nachbardepartment Ariège. Drei Stunden entfernt von Perpignan findet das 19. Capitoul statt, eine große Festsitzung der Confrérie de l'Escargot Ariègeois, der Zunft der Schneckenzüchter und -liebhaber der Ariège. Die Schneckenzunft ist am 15. Mai 2001 gegründet worden mit dem Ziel,

  • die Freunde der Schnecken zu versammeln,
  • die Schnecke der Ariège und Kataloniens, die "petits Gris", die "kleinen Grauen", bekannt zu machen, zu probieren und zu schätzen,
  • eben diese Schnecke aus La Tour du Crieu in ihrer natürlichen Umgebung zu schützen, um ihre Art zu erhalten,
  • folkloristische Traditionen zu erhalten und zu entwickeln.
Mehr als dreißig befreundete Confréries der näheren und weiteren Umgebung folgen der Einladung und entsenden Delegationen, darunter die Confrérie de l'escargot du Roussillon, der Schnecke Nordkataloniens, auch mich, Chevalier de l'Escargoulade, die Confrérie La Violette, das Veilchen, die Confrérie de l'Ail Rose de Lautrec, des rosafarbenen Knoblauchs aus Lautrec, die Confrérie Souveraine et jubilatoire de la Carotte de Blagnac, die Souveräne und jubilierende Zunft der Mohrrübe von Blagnac, die Confrérie de la Poule Farcie, des gestopften Huhnes, sowie weitere Zünfte mit exotischen Namen und sehr menschenfreundlichen Zielen, beispielsweise die weltumspannende Zunft der Ritter des österlichen und riesigen Eierpfannkuchens von Bessières, der Confrérie Mondiale des Chevaliers de l'Omelette Pascale et Géante de Bessières.

Ein Meer von großen und kleinen bestickten oder bedruckten Bannern wird von den in ihre Zunftumhänge gehüllten Delegationen präsentiert. Nach einem ausgiebigen Frühstück mit Köstlichkeiten der Region stellt der Grand Maître der Confrérie de L'Escargot Ariègeois die Delegationen vor, und dann geht's als Prozession in die Kirche, zur Messe. Einzelne Delegationen bringen Produkte ihrer Zunft mit und stellen sie als Opfergabe vorm Altar ab. Das ist beeindruckend, die Delegationen gehen in allem Ernst in die Kirche, und am Eingang wird das Programm zum Verlauf des Gottesdienstes verteilt. Darin stehen auch die Texte der Kirchenlieder, die gesungen werden, zu Beginn Hand in Hand, Hand in Hand. Vergessen werden sollen für den Augenblick die Alltagssorgen, in die Herzen möge Freude einziehen, die an die Freunde weitergeben werde, daß alle Hand in Hand leben. Es folgen kleine Predigten, Lesungen aus dem Neuen Testament, Gebete, Gesänge und Worte wie dieses: Nicht alles läuft schlecht auf Erden, es gibt Männer und Frauen die mit ihrer Person dafür einstehen, daß es mehr Großzügigkeit, mehr Liebe unter uns gibt. Das Vaterunser wird gesprochen, eine Kollekte abgehalten, und zum Schluß, vor der Kommunion, ertönt die Lokalhymne der Bürger der Ariège als Chant final. 

An dieser Stelle holt mich erstmalig der Alltag ein; denn nicht etwa wird der occitanische Text ins Französische übersetzt, sondern es gibt in Klammern vorab eine Art Entschuldigung dafür, daß das Lied ertönen werde:  "Dieser Gesang ist wie unsere lokale Hymne: das Wort katholisch muß im Sinne von "christlich" genommen werden. Es stellt nicht die geringste Provokation gegenüber unseren protestantischen Brüdern oder denjenigen dar, die zu anderen Konfessionen gehören."

Ariéjoués é cathoulics
Nostro fé, nostro fé n'a pas faillit,
Canton lé cor réjouit
Ariéjoués é cathoulics !
Nostro Ariégo se rapélo
Soun histouero ambé fiertat
Mes sa glorio la pu bélo
Es les sants qu'éla pourtat
Gardarem pla l'héritatgé
Que nous an dichat les bielhs
Nostris éfants en partatjé
L'aouran é siren fidéls

Bürger der Ariège und Katholiken / unser Glaube, unser Glaube ist nicht fehlgegangen, / Laßt es uns mit frohem Herzen singen / Bürger der Ariège und Katholiken! / Unsere Ariège erinnert sich ihrer Geschichte mit Stolz / Aber ihr schönster Ruhm / sind die Heiligen, die sie getragen hat / Laßt uns unser Erbe rein erhalten / das uns die Alten vermittelt haben / unsere Kinder haben daran teil / werden es erhalten und ihm treu sein.

Beim anschließenden Apéritif, da wieder Köstlichkeiten und Getränke aufgefahren werden, frage ich den Pfarrer, einen alten Herrn um die 80, warum die Erklärung vor dem Liedtext stünde. Er druckst etwas herum und sagt, daß es mit Protestanten nichts zu tun hätte, die Protestanten hier wären Freunde, aber die anderen Religionen, und er stockt in der Rede. Ach, so ist das! Ich bin entsetzt, wie weit das Dhimmitum in Frankreich verbreitet ist. Die Bürger singen nicht mehr einfach ihre lokale Hymne, sondern geben gegenüber "protestantischen Brüdern oder denjenigen ..., die zu anderen Konfessionen gehören", entschuldigende Erklärungen ab.

Dem Apéritif folgen Inthronisationen, das heißt, es werden mit allerlei Sprüchen Anwesende in die Confrérie de l'Escargot Ariègeois aufgenommen. Vorher hält der sozialistische Bürgermeister der knapp 800 Einwohner zählenden Gemeinde eine Willkommensrede, und da gibt's, in Humor verpackt, wieder Alltag eingestreut. Anspielend auf das Geschlecht von Schnecken, den Gastropoden oder Bauchfüßern, die Zwitter sind, meint er lachend, die Confrérie hätte ja mit Hermaphroditen zu tun, die heutzutage heiraten könnten, le mariage pour tous nimmt er halt wörtlich. Es ist zu merken, daß weder er noch einer der Zuhörer dem neuen Gesetz der Ehe für alle zustimmt, daran können auch geschönte Umfrageergebnisse aus Diskotheken nichts ändern. Ob die Gegend mehrheitlich sozialistisch oder bürgerlich regiert wird, es gibt Ablehnung. Inzwischen inhaftiert die Regierung Frankreichs friedliche Demonstranten gegen die "Ehe für alle" mehrere Monate, ein sich auf dem Nachhauseweg befindender Manager, der einem von den Polizisten malträtierten, blutend am Boden liegenden Demonstranten Bon courage wünscht, alles Gute, kommt dafür 44 Stunden in Gewahrsam, ohne daß er jemanden verständigen darf. Le Figaro berichtet von weiteren Verfolgungen der Demonstranten; es herrscht eitel Willkür, angeordnet und gelenkt vom sozialistischen Innenminister Manuel Valls, einem Katalanen.

Bei den beiden Ausreißern des Festes bleibt es, das Mahl zieht sich über Stunden hin, Tausenden von Schnecken läutet ihr letztes Stündlein, Schnecken im Salat, als Zwischengericht, Schnecken in Soße, wie sie ähnlich auch in Katalonien zubereitet werden, es gibt dazu gute Weine, weiße, rosé und rote. Paris und seine schräge Regierung liegen weit entfernt, irgendwo hinter der Wetterscheide. Drei Stunden Rückfahrt, viele schöne Erinnerungen, neue Freunde. Das Leben ist schön!